Episode 71 – Rückkehr an den Steg

Der Himmel war klar an diesem Morgen. Ein kaltes, blaues Licht lag über dem See, das Wasser war fast unbeweglich. Nur ein einzelner Reiher stand im seichten Uferbereich und sah aus, als hätte er alles vergessen, was Lärm war.
Mia zog sich die Jacke enger um den Körper, während sie mit den anderen den schmalen Pfad hinter dem Hotel entlangging. Der Boden war feucht vom Tau, und ihre Schritte hinterließen Abdrücke auf dem Moos.
„Wann waren wir das letzte Mal hier?“ fragte Lea.
„Vor Wochen“, antwortete Finn. „Kurz nach dem Glockenfund.“
„Damals, als Jonas…“ Mia hielt inne.
Jonas sagte nichts. Er lief ein paar Schritte voraus, den Blick fest auf das Wasser gerichtet. Es war kein Widerstand in ihm, keine Ablehnung – nur Konzentration.
Der alte Bootssteg kam in Sicht. Er war schmal, leicht verzogen, die Holzplanken hatten sich vom Wetter grau verfärbt. An den Rändern hingen Reste von Tau und Gras. Der See schien hier dunkler zu sein, schwerer.
„Seht ihr das?“ fragte Jonas und deutete auf den Übergang zwischen dem letzten Plankenabschnitt und dem Boden.
Ein Holzbrett stand leicht ab. Jemand – oder etwas – hatte es verschoben. Jonas kniete sich hin und hob es vorsichtig an. Darunter: Ein flaches Metallstück, rund, etwa handtellergroß, direkt ins Erdreich eingelassen.
„Das sieht aus wie… eine Plakette“, murmelte Mia.
„Oder ein Siegel“, sagte Lea leise.
Das Metall war dunkel, von Patina überzogen. Jonas fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche. Erst dachte er, es sei glatt – dann erkannte er eine Gravur. Zart, fast verwittert: **Drei Kreise, ein Mittelpunkt**.
„Wieder das Gleichgewichtssymbol“, flüsterte Finn.
Als Lea sich daneben kniete, zuckte sie kurz zurück.
„Habt ihr das gespürt?“
„Was?“
„Eine Vibration. Ganz leicht. Nur, wenn man sehr nah ist.
Jonas legte die Hand auf das Metall. Auch er spürte es – nicht wie ein elektrisches Kribbeln, sondern wie ein leises, inneres Echo. Als würde der See etwas sagen, das man nicht in Worten versteht.
„Hier ist mehr“, sagte er.
Sie begannen, den Bereich unter dem Steg zu untersuchen. Moos, lose Steine, altes Treibholz. Jonas kletterte vorsichtig unter die Planken, während Finn die Taschenlampe aus dem Rucksack holte.
Alle bisher veröffentlichen Episoden
- Episode 77 – Die Nachricht im Stein
- Die Schatten von Flensburg
- Episode 76 – Die Insel, die nicht da ist
- Episode 75 – Der Wind über dem See
- Episode 74 – Das Gleichgewicht verschiebt sich
- Episode 73 – Die Karte im Antiquariat
- Episode 72 – Heiko im Kiek In
- Episode 71 – Rückkehr an den Steg
- Episode 70 – Das Fenster im Dorf
- Episode 69 – Die unterbrochene Linie
- Episode 68 – Heiko und das Fenster
- Episode 67 – Die Notiz auf dem Umschlag
- Episode 66 – Jonas hat eine Vermutung
- Episode 65 – Die Geräusche im Flur
- Episode 64 – Stimmen im Flur
- Episode 63 – Der Staub vergangener Jahre
- Episode 62: Das Gleichgewicht
- Episode 61: Das Flüstern im Laub
- Episode 60: Das Zeichen am Ufer
- Die Spur der Falkenbergs
- Die verlorene Verbindung
- Das alte Versprechen
- Der verschwundene Gast
- Das erste Jahr im Seeblick
- Episode 58: Ein neuer Blick auf das Seeblick
- Episode 57: Ein Tag im Seeblick
- Episode 56: Ein stiller Beobachter
- Episode 55: Heiko entdeckt Sankelmark
- Episode 54: Ein leiser Wandel
- Episode 53: Die Ankunft der Familie Lenzen
- Episode 52: Das vergessene Gutshaus
- Episode 51: Die verborgenen Aufzeichnungen
- Episode 50: Verborgene Pfade
- Episode 49: Die Inschrift in der Kirche
- Episode 48: Die Reise nach Oeversee
- Episode 47: Das Echo der Glocke
- Episode 46: Die Glocke aus der Tiefe
- Episode 45: Die Fahrt ins Unbekannte
- Episode 44: Die Spur auf dem See
- Episode 43: Begegnungen in Oeversee
- Episode 42: Der Blick durch das Fernrohr
- Episode 41: Die Spur im Hafen
- Episode 40: Die Karte der Vergangenheit
- Episode 39: Das vergessene Ufer
- Episode 38: Der Kompass des Vergessens
- Episode 37: Der Fund am Morgen
- Episode 36: Die Botschaft aus der Tiefe
- Episode 35: Das Licht im Wasser
- Episode 34: Grenzen und Konsequenzen
- Episode 33: Das Echo des Sees
- Episode 32: Ein Tag in Sankelmark
- Episode 31: Das Geheimnis im Schilf
- Episode 30: Zwischen Alltag und Ungewissheit
- Was bisher geschah - was geschehen wird
- Episode 29: Das Grollen aus der Tiefe
- Episode 28: Das Echo aus der Tiefe
- Jonas und sein Geheimnis
- Episode 27: Ein spannender Alltag im Hotel Seeblick
- Episode 26: Schatten über dem See
- Episode 25: Das Grollen aus der Tiefe
- Episode 24: Die Warnung aus der Tiefe
- Episode 23: Anna und die Stimmen der Vergangenheit
- Zwischenerzählung: Anna und der Ruf des Seeblick
- Episode 22: Das verschwundene Zeichen
- Episode 21: Das Echo der Vergangenheit
- Was bisher geschah: Die Geheimnisse des Sankelmarker Sees
- Episode 20: Die Wächter des Sees
- Episode 19: Das Echo der Glocke
- Episode 18: Der Fremde und die Wahrheit im Nebel
- Episode 17: Das Rätsel der Kristalle
- Episode 16: Ein Rätsel im Dorf
- Episode 15: Ein lebhafter Tag im „Seeblick“
- Anna und die Stimmen der Vergangenheit
- Episode 14: Der verborgene Tunnel
- Episode 13: Verborgene Wahrheiten im Hotel
- Episode 12: Das Tagebuch des Fremden
- Episode 11: Die Spur im Nebel
- Was bisher geschah rund um den Sankelmarker See: Die Reise ins Unbekannte
- Episode 10: Der erste markierte Punkt
- Episode 9: Annas Sorgen und neue Pläne
- Tauche ein in die Geheimnisse des Sankelmarker Sees – per WhatsApp!
- Episode 8: Das verborgene Zimmer
- Episode 7: Die Akademie Sankelmark
- Episode 6: Die Lichter auf dem See
- Episode 5: Die Gravuren im Nebel
- Episode 4: Das verlorene Boot
- Episode 3: Symbole im Arnkielpark
- Episode 2: Das Kiek In und die ersten Geschichten
- Episode 1: Annas Neuanfang
- Das Bullauge der Zeit
„Hier!”
Jonas’ Stimme klang dumpf. Er hatte eine kleine Mulde entdeckt, gut verborgen unter einer losen Bodenplatte. Darin: ein Stück Stoff, sorgfältig gefaltet, eingewickelt in gewachstes Papier.
Er reichte es Mia.
Sie öffnete es langsam. Es war ein Tuch – alt, mit Fransen, und in die Mitte war ein Muster gestickt: drei Kreise, aber diesmal ergänzt durch vier kleine Punkte an den Rändern. Und darunter eine handgestickte Initiale: **D.F.**
„Diana Falkenberg?“ fragte Lea.
Niemand antwortete sofort. Der Moment fühlte sich schwer an. Nicht unheimlich – eher bedeutungsvoll.
„Ich glaube“, sagte Jonas leise, „sie war hier. Vor uns. Vielleicht hat sie das hier gelassen.“
„Warum?“
„Weil sie wusste, dass wir kommen.“
Sie setzten sich auf die Kante des Stegs. Das Licht hatte sich verändert. Das Wasser reflektierte nicht mehr, sondern wirkte plötzlich tief – fast bodenlos. Die Oberfläche war glatt wie Glas.
„Wenn das ein Punkt im Gleichgewicht ist“, sagte Finn, „dann muss es noch mehr davon geben.“
„Wir haben drei gefunden“, zählte Mia auf. „Den im Arnkielpark, den Stein im Wald, und jetzt diesen hier.“
„Und was, wenn es einen vierten gibt?“ fragte Lea.
„Dann ist der Kreis komplett“, antwortete Jonas.
Sie blieben eine Weile dort sitzen. Die Welt wirkte für einen Moment langsamer. Keine Stimmen, keine Motoren, keine Eile.
Nur der See. Und das leise, vibrierende Echo, das unter der Oberfläche lauerte wie eine Erinnerung.
Als sie sich schließlich erhoben und zurück zum Hotel gingen, schien der Steg sie zu verabschieden – nicht mit einem Geräusch, sondern mit einem Gefühl.
Ein letztes, sanftes Vibrieren im Boden.
Ein Nicken des Sees.
Ein Flüstern, das man nur hört, wenn man bereit ist zu lauschen.
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