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Zurück zu Geschichten aus dem Hotelalltag

Das erste Jahr im Seeblick

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Als Anna das erste Mal die Tür zum Hotel Seeblick mit dem Schlüssel in der Hand öffnete, spürte sie ein eigenartiges Kribbeln in der Brust. Es war nicht nur Aufregung, nicht nur Unsicherheit – es war das Gewicht einer Entscheidung, die größer war, als sie zunächst gedacht hatte. Der Duft von altem Holz und einer Zeit, die sich in den Wänden eingenistet hatte, umfing sie sofort. Es war still, nur das leise Knarren der Dielen unter ihren Schuhen durchbrach die Stille.

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Die Sonne war bereits untergegangen, und durch die großen Fenster fiel das letzte Licht des Tages in die Lobby. Staub tanzte in den Strahlen, als Anna sich langsam umsah. Es war ein schönes Gebäude, keine Frage – aber es war auch alt, lebendig auf eine Weise, die sie damals noch nicht ganz verstand. Sie strich mit der Hand über den Empfangstresen, auf dem noch ein Gästebuch lag, als hätte der letzte Besitzer es dort absichtlich für sie hinterlassen.

Sie öffnete das Buch und blätterte durch die letzten Einträge. Namen, Daten, kleine Notizen darüber, wie sehr die Gäste den Blick auf den See genossen hatten. „Ich hoffe, dass dieses Hotel immer ein Zuhause bleibt – für Reisende und für jene, die einen Ort suchen, an den sie gehören.“ Der Satz ließ sie innehalten. Sie wusste nicht, wer ihn geschrieben hatte, aber er fühlte sich wie eine Botschaft an.

Die erste Nacht im Seeblick war eigenartig. Das Bett in der kleinen privaten Wohnung, die sie im hinteren Teil des Hotels bezogen hatte, war ungewohnt, die Geräusche des alten Hauses ließen sie nicht sofort zur Ruhe kommen. Ab und zu knackte das Holz in den Wänden, irgendwo klapperte ein Fenster im Wind. Doch am nächsten Morgen fühlte es sich schon ein wenig mehr nach ihrem Zuhause an.

Die ersten Tage waren voller Arbeit. Sie musste sich in die Abläufe einfinden, mit dem verbliebenen Personal sprechen, Zimmer inspizieren und sich überlegen, wie sie das Seeblick in eine neue Zukunft führen konnte. Es war ein Spagat zwischen Bewahrung und Veränderung – zwischen dem, was das Hotel ausmachte, und dem, was es brauchte, um weiterhin zu bestehen.

Die ersten Gäste kamen nach wenigen Wochen. Ein älteres Ehepaar, das das Seeblick bereits aus früheren Jahren kannte. Sie sahen sich mit prüfenden Blicken um, stellten ein paar Fragen und lächelten dann. „Es fühlt sich noch immer an wie damals,“ sagte die Frau. „Und das ist gut.“

Mit der Zeit lernte Anna die kleinen Eigenheiten des Hauses kennen. Die Tür zum Garten ließ sich manchmal nur mit einem leichten Ruck öffnen. Das Licht in einem der oberen Flure flackerte gelegentlich, obwohl die Elektrik einwandfrei war. Und es gab einen alten Stuhl im Aufenthaltsraum, auf dem Gäste sich nie wirklich wohlzufühlen schienen – er wurde stets unbewusst gemieden.

Ein besonderes Erlebnis aus ihrem ersten Jahr war der Besuch von **Frau Meier**, einer alten Dorfbewohnerin, die sie eines Nachmittags aufsuchte. Die Dame setzte sich an einen der Tische in der Lobby, bestellte einen Tee und musterte Anna lange, bevor sie sprach.

„Ich war ein Kind, als ich das erste Mal hier war,“ begann sie. „Damals war das Seeblick noch viel kleiner, aber es hatte schon immer diese besondere Art, Menschen anzuziehen. Es hat eine Geschichte, wissen Sie?“

Anna nickte. „Ich spüre es.“

„Passen Sie darauf auf,“ sagte Frau Meier. „Das Hotel gehört Ihnen nun – aber es ist auch ein Teil von etwas Größerem.“

Nach diesem Gespräch betrachtete Anna das Hotel mit neuen Augen. Sie spürte langsam, dass es mehr war als nur ein Gebäude. Es war ein lebendiger Ort, ein Geflecht aus Erinnerungen, Begegnungen und Geschichten, die sich über Jahrzehnte hinweg gesammelt hatten.

Ein Jahr verging, und Anna hatte sich im Seeblick eingelebt. Sie hatte sich von Unsicherheiten gelöst, hatte gelernt, Entscheidungen zu treffen und mit den Herausforderungen eines alten Hotels umzugehen. Es war nicht immer einfach gewesen – es gab schwierige Tage, Momente des Zweifels, unerwartete Reparaturen und lange Nächte, in denen sie sich fragte, ob sie das Richtige tat.

Doch wenn sie am Morgen in die Lobby trat und den Duft von Kaffee roch, das erste Lächeln eines Gastes sah oder das leise Rauschen des Sees durch die offenen Fenster hörte, wusste sie, dass sie genau dort war, wo sie sein sollte.

Das Seeblick war nun ihr Zuhause. Und sie würde dafür sorgen, dass es das auch für andere blieb.

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