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Episode 60: Das Zeichen am Ufer

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Der Tag begann mit einer angenehmen Frische, die durch die geöffneten Fenster des Hotel Seeblick strömte. Die Nebelschleier über dem Sankelmarker See zogen sich zurück, und das Licht brach sich auf der Wasseroberfläche in flimmernden Reflexen. In der Küche wurde bereits gearbeitet, auf der Terrasse deckte das Personal die Tische für das Frühstück, und in der Lobby herrschte das gewohnte leise Summen eines gut eingespielten Morgens. Anna trat aus ihrem Büro, das dampfende Teeglas in der Hand, und sah Heiko, der mit einem Notizbuch an einem kleinen Fensterplatz saß. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, und beide nickten sich zu. Er war inzwischen nicht mehr einfach nur ein Gast. Er war ein Beobachter, ein Mitdenkender – jemand, der nicht fragte, was er verändern konnte, sondern was er verstehen musste. Frau Alva betrat gerade das Hotel mit ihrem gewohnten energischen Schritt. “Anna, du hast einen Moment?” fragte sie leise. “Ich glaube, ich habe etwas gesehen.” “Was meinst du?” “Ein Zeichen. Am Ufer. Nicht wie die anderen. Es sieht… neu aus. Als hätte es jemand gerade erst in den Boden geritzt.” Anna stellte ihr Glas ab. “Wo genau?” “Nahe dem alten Bootssteg. Dort, wo der große Birkenbaum steht. Ich wollte dich holen, bevor es jemand verwischt.” Gemeinsam mit den Kindern machten sich Anna, Heiko und Frau Alva auf den Weg. Der Pfad zum Ufer war leicht feucht vom Morgentau. Die Vögel sangen in den Bäumen, und das Licht war weich und golden. Am Fuß des Birkenbaums, dort, wo das Gras in den Kiesweg überging, lag es: ein Muster, sorgfältig in die Erde geritzt. Es war rund, mit drei geschwungenen Linien im Zentrum, die sich nicht berührten, aber miteinander in Beziehung standen. “Das haben wir noch nie gesehen,” sagte Mia und kniete sich davor. “Aber es erinnert mich an… warte mal.” Sie zog ein Blatt aus ihrem Notizheft und legte es daneben. “Hier. Das war auf der Rückseite eines der Falkenberg-Briefe. Eine Skizze, nur angedeutet.” Heiko trat näher. “Es sieht aus wie eine Markierung. Aber wofür?” “Vielleicht zeigt es uns, dass sich etwas verändert hat,” sagte Anna leise. “Oder dass das Gleichgewicht nicht mehr stabil ist.” “Oder es ist eine Einladung,” murmelte Lukas. Sie beschlossen, das Zeichen zu dokumentieren und erst einmal niemandem davon zu erzählen. Zurück im Hotel, machten sich die Kinder daran, mögliche Bedeutungen zu recherchieren. Petersen kam vorbei, sah die Zeichnung und wurde sofort still. “Das hab ich mal gesehen,” sagte er nach einer Weile. “Vor vielen Jahren. Mein Großvater hatte eine Schnitzerei mit genau diesem Symbol. Es war in seinem Boot befestigt, unter der Sitzbank. Ich hab nie gewusst, was es bedeutet.” “Könnte das Boot noch existieren?” fragte Lea. “Vielleicht. Es stand zuletzt in der Scheune hinter unserem Haus. Ich habe lange nicht reingeschaut.” Anna und die Kinder beschlossen, Petersen zu begleiten. Die kleine Holzscheune war von Efeu überwuchert, aber als Petersen die Tür öffnete, lag der Geruch von altem Holz und vergessener Zeit in der Luft. Das Boot stand da, staubbedeckt, aber intakt. Unter der Bank fanden sie die Holzschnitzerei. Das gleiche Symbol, eingeritzt in dunkles Eichenholz. “Was, wenn es eine Art Wegweiser ist?” fragte Mia. “Ein Zeichen für etwas, das nur wenige sehen sollen?” “Oder ein Schutzsymbol,” sagte Petersen. “Etwas, das verhindern soll, dass man zu tief sucht.” Heiko, der bisher still gewesen war, trat an das Boot. “Vielleicht ist es beides. Eine Grenze. Die Frage ist: Wollen wir sie überschreiten?” Zurück im Hotel nahm Anna sich einen Moment Zeit. Sie ging auf die Veranda, setzte sich in einen der alten Holzstühle und blickte auf den See. In ihrer Hand hielt sie das Foto der Falkenbergs. Im Hintergrund des Bildes war das gleiche Symbol in die Mauer geritzt – sie hatte es nie bemerkt. “Vielleicht sind wir schon längst Teil von etwas, das wir nur langsam begreifen,” dachte sie. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Kinder beschlossen, eine Pause einzulegen. Heiko bot an, sich am nächsten Tag um das Frühstücksbuffet zu kümmern – nicht aus Pflicht, sondern aus einem wachsenden Gefühl der Zugehörigkeit. Anna nickte. Es war gut, ihn dabeizuhaben. Der See schwieg. Doch das Zeichen war da. Und es würde nicht verschwinden.

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